Erzählzeit und erzählte Zeit
Mit der Erzählzeit und der erzählten Zeit kannst du die Länge einer Geschichte messen. Wie du sie unterscheidest und was sie mit dem Erzähltempo zu tun haben, erfährst du hier und in unserem Video !
Inhaltsübersicht
Was ist die Erzählzeit?
Die Erzählzeit ist die Zeitspanne, die benötigt wird, um eine Geschichte zu vermitteln. Sie bezieht sich auf die Zeit in der Realität.
Bei einem Film oder einem Theaterstück ist das ganz einfach die Dauer der Vorstellung in Minuten. Aber bei einem Buch braucht jeder Leser unterschiedlich lang, um es zu lesen. Deshalb wird die Erzählzeit meist in Seiten angegeben. Diese Angabe ist ziemlich ungenau, denn die Lesedauer hängt von mehreren Faktoren ab. Du kannst für zwei Bücher mit gleich vielen Seiten unterschiedlich lang brauchen. Das liegt dann etwa an der Größe der Buchstaben oder der Seiten. Natürlich spielt auch die Schwierigkeit des Textes eine Rolle für das Lesetempo. Die Erzählzeit ist also eine ungenaue Angabe.
Beispiel: Der Roman „Das Schloss“ von Franz Kafka hat eine Erzählzeit von 330 Seiten (Reclam-Ausgabe 1996).
Was ist die erzählte Zeit?
Die erzählte Zeit ist der Zeitraum, über den sich eine Geschichte erstreckt. Also wie viel Zeit in der Geschichte von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende vergeht. Sie bezieht sich auf die Zeit in der Geschichte.
Das können nur wenige Stunden im Leben eines Charakters, aber auch Wochen, Jahre oder Jahrzehnte sein.
Beispiel: „Tschick “ von Wolfgang Herrndorf hat eine erzählte Zeit von etwa sechs Wochen. Die Erzählung setzt mit dem Anfang der Sommerferien ein und endet mit dem ersten Schultag nach den Ferien.
Tipp: Nicht immer findest du konkrete oder eindeutige Angaben zum Beginn und Ende des Geschehens. Du kannst also eine Vermutung aufstellen, wie lange die erzählte Zeit ungefähr ist.
- Erzählzeit: Dauer des Erzählvorgangs/Lesevorgangs in der Realität
- Erzählte Zeit: Dauer des Geschehens in der Geschichte
Zeitdeckung
Wenn die erzählte Zeit mit der Erzählzeit übereinstimmt, nennst du das zeitdeckendes Erzählen. Während du die Geschichte liest, vergeht in deinem Leben genauso viel Zeit wie im Leben der Figur.
Beispiel: Ich ging aus meinem Zimmer in den Flur und nahm meine Jacke von der Garderobe. Schnell schlüpfte ich zuerst in den linken, dann in den rechten Schuh. Summend zog ich mir die Jacke an. „Tschüss!“, rief ich. Dann schnappte ich mir den Schlüssel und trat aus der Tür.
Zeitdeckendes Erzählen ist ziemlich selten, da es ja auch schwer zu bestimmen ist, ob die Erzählzeit und die erzählte Zeit genau übereinstimmen. Eine Ausnahme bildet die Erzählperspektive des Gedankenstroms. Dabei werden die Gedanken einer Figur lückenlos geschildert, wie etwa in Arthur Schnitzlers „Fräulein Else“ . Die erzählte Zeit ist nur wenige Stunden lang – zum Lesen der 108 Seiten (Reclam-Ausgabe) brauchst du etwa genauso lang.
Zeitdehnung
Wenn die Erzählzeit länger als die erzählte Zeit ist, sprichst du von zeitdehnendem Erzählen. Während des Lesens vergeht also in deinem Leben mehr Zeit als im Leben des Charakters.
Beispiel: Als ich aus der Tür trat, wartete sie schon auf mich. Ich lächelte sie an und übersah dabei die Bananenschale auf dem Bürgersteig. Während ich fiel, nahm ich alles mit größter Genauigkeit wahr. Ein Auto fuhr mit heruntergelassenen Scheiben vorüber, laute Musik dröhnte aus den Lautsprechern. Ein Hund bellte. Eine Fahrradfahrerin klingelte verärgert. Hart prallte ich auf den Boden.
Ein typisches Beispiel für die Zeitdehnung ist der Roman „Ulysses“ von James Joyce. Die erzählte Zeit umfasst einen einzigen Tag, nämlich den 16. Juni 1904. Die Erzählzeit ist aber sehr lang, nämlich 1015 Seiten (Suhrkamp-Ausgabe 1979). Zum Lesen brauchst du bestimmt länger als einen Tag!
Zeitraffung
Wenn die Erzählzeit kürzer als die erzählte Zeit ist, verstehst du darunter zeitraffendes Erzählen. Während des Lesevorgangs vergeht also weniger Zeit als im Leben der Figur.
Beispiel: Ich packte meine Sachen und verließ das Haus in Richtung Bahnhof. Wenig später stieg ich in den Zug.
Die meisten Erzählungen sind zeitraffend erzählt. Der Erzähler fasst also die wichtigsten Ereignisse für den Leser zusammen. Denn wie du vielleicht schon bemerkt hast, werden die zeitdeckende Beschreibung oder die zeitdehnenden Ausschweifungen schnell langweilig. Wenn du eine erzählte Zeit beschreiben willst, die länger als ein paar Stunden dauert, hast du auch gar keine andere Wahl als die Zeitraffung – das Buch würde einfach zu dick werden!
Das ist zum Beispiel bei Thomas Manns Roman „Buddenbrooks„ der Fall. Darin wird die Geschichte mehrerer Generationen einer Familie behandelt. Die erzählte Zeit umfasst also mehrere Jahrzehnte – zum Lesen der 768 Seiten (Fischer-Ausgabe 1999) benötigst du zwar viel Zeit, aber bestimmt nicht so lange!
Zusammenfassung
Hier siehst du noch einmal alles auf einen Blick:
Bezeichnung | Verhältnis | Beispiel | ||
Zeitraffung: | erzählte Zeit | > | Erzählzeit | „Buddenbrooks” – Thomas Mann |
Zeitdeckung: | erzählte Zeit | = | Erzählzeit | „Fräulein Else“ – Arthur Schnitzler |
Zeitdehnung: | erzählte Zeit | < | Erzählzeit | „Ulysses“ – James Joyce |
Die meisten Bücher sind aber nicht durchgehend in einem Erzähltempo geschrieben. Je nachdem welche Wirkung der Autor erzielen will, wählt er eine andere Geschwindigkeit für seine Erzählung. Zum Beispiel wird Unwichtiges oft zeitraffend beschrieben, wichtige Momente werden eher in die Länge gezogen.
Die Analyse des Erzähltempos ist also ein wichtiger Teil bei der Interpretation . Die Zeitgestaltung ist nämlich ein wesentliches Element der Erzähltechnik.
Erzählperspektive
Ein weiterer Aspekt, den du bei deiner Interpretation beachten solltest, ist die Erzählperspektive. Sie beschreibt, aus welcher Sichtweise die Geschichte erzählt wird. Wenn du noch mehr darüber wissen willst, schau dir gleich unser Video zur Erzählperspektive an!